„Also, mal muss mit der Vergangenheit auch Schluss sein!“, sagte die Frau, als ich ihr von dem Gedenkweg am 9.11. erzähle. „Man kann doch nicht immer nur zurückschauen, oder?“
Recht hat sie. Wer immer nur zurückschaut, verpasst viel und ändert wenig. Und doch – sich der Vergangenheit bewusst sein, sich erinnern, damit kann nicht Schluss sein. In diesen Tagen ist das besonders gegenwärtig: ich erinnere mich an die Tage vor 36 Jahren, als die Mauer fiel und ich erinnere mich an die Verbrechen, die in Deutschland passierten, am Jahrestag der Reichspogromnacht. Die eine Erinnerung lässt mich dankbar sein, die andere macht mich immer wieder stumm und fassungslos. Beide Erinnerungen sind wertvoll - wenn sie mich in die Gegenwart und die Zukunft weisen. So funktioniert Erinnern in der Bibel. Da geht es nicht darum, darin zu schwelgen, dass früher alles besser war bei Mose oder Abraham oder Jesus. Da geht es darum, sich zu erinnern und daraus Schlüsse zu ziehen für die Gegenwart, damit so Zukunft gestaltet werden kann. Wie war das damals, beim Auszug aus Ägypten, mit dem Goldenen Kalb oder dem Barmherzigen Samariter, was kann ich daraus heute für mein Leben, für meinen Glauben lernen, welche Botschaft kann ich für mich aus den Fehlern, dem Scheitern meiner Vorfahren ziehen. So setzt Erinnern in Bewegung - auch heute. Der Dank für die friedliche Revolution schärft meinen Blick für Mauern, die heute noch trennen und an denen ich selber mit baue. Das Entsetzen über die Gräuel, die in unserem Land möglich waren, macht mich wachsam gegenüber lebensfeindlichen Ideologien und meiner eigener Anfälligkeit dafür – heute nötiger denn je.
„Man kann doch nicht immer nur zurückschauen, oder?“ Nein, das kann man nicht. Aber nur nach vorne zu sehen, ohne im Blick zu haben, woher ich komme und wohin ich will, das geht eben auch nicht.
Pastorin Susanne Paul
Beauftragte für Genderfragen der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Evangelische Agentur