Mitgefühl mit den Menschen zeigen

19. November 2024
Foto: Stefan Heinze

Ansprache zum Volkstrauertag 2024 von Elvin Hülser, Markuskirche Lehrte

Bevor der Volkstrauertag von den Nationalsozialisten zum „Heldengedenktag“ umgewidmet und Teil einer menschenfeindlichen Instrumentalisierung zur Überhöhung des Krieges wurde, hatte der Volkstrauertag seinen Ursprung in dem Wunsch, Mitgefühl mit den Menschen zu zeigen, die im Ersten Weltkrieg nahe Angehörige verloren hatten. Es ist dieser Ursprung, auf den wir uns heute besinnen sollten, wenn wir den Volkstrauertag begehen: Nicht die waffenstarrende Feier des Krieges und seiner (soldatischen) Opfer als Helden, sondern das stille Mitgefühl mit dem Leid und dem Verlust, die der Krieg zurückgelassen hat.

Krieg ist die ultimative Niederlage der Menschheit, niemals etwas „Großes“, sondern immer Ausdruck menschlichen Versagens. Dieses Versagen sollte uns Mahnung und Verpflichtung sein: Mahnung, es zukünftig besser zu machen. Verpflichtung gegenüber den Opfern des Krieges – allen Opfern. Verpflichtung, aus der leidvollen Erfahrung des Krieges nicht ewige Feindschaft erwachsen zu lassen, sondern die Kraft der Versöhnung zu finden und diese zu suchen. Verpflichtung, „dem Frieden nachzujagen“ und uns nicht damit abzufinden, dass wir Menschen weiterhin Krieg führen. Dies wird auch deutlich in dem Leitwort des Volkstrauertages, welches der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge für diesen Tag des Gedenkens ausgegeben hat: Versöhnung über den Gräbern - Arbeit für den Frieden.

Versöhnung über den Gräbern: Auch knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges müssen wir erkennen und anerkennen, dass wir mit diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte nicht „fertig“ sind. So liegen auch heute auf Lehrter Friedhöfen Opfer dieses Krieges, denen nicht namentlich und angemessen erinnert und gedacht wird: Zwangsarbeiter, die während des Krieges im Durchgangslager in Lehrte und in Außenlagern untergebracht waren und unter teils skandalösen Umständen ums Leben kamen. Männer, Frauen, Kinder, deren Namen wir kennen könnten (und die wir im Rahmen eines Projekts zur Zwangsarbeit gerade recherchieren), liegen auf Lehrter Friedhöfen. Sie dürfen nicht länger vergessen werden! Versöhnung kann man nicht einfordern, auf Versöhnung darf man hoffen. Aber wer auf Versöhnung hoffen will, muss sich auch der eigenen Verantwortung und der seiner Vorfahren stellen.

Ich spreche zu Ihnen in einer Zeit, in der an vielen Stellen auf dieser Erde wiederum Krieg geführt wird. Täglich sterben über Tausend Menschen in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, im Nahen Osten ereilen uns immer aufs Neue Hiobsbotschaften von den verschiedenen Schauplätzen des Kriegs und der Gewalt, aber auch im Jemen und so vielen anderen Orten bestimmt der Krieg den Alltag der Menschen.

Auch dieser Menschen gedenken wir: Wir dürfen nicht wegschauen, sondern müssen uns dieser Realität stellen. Wir schauen mit Trauer und Verzweiflung auf das Schicksal dieser Menschen, das vom Krieg bestimmt wird.

ABER: Krieg als solcher ist nicht das Schicksal des Menschen bzw. der Menschheit!

Der Krieg ist von Menschen gemacht – von Menschen, die auch anders können bzw. könnten: Wir sind NICHT zum Krieg verdammt, der Mensch sehnt sich nach Frieden und er kann ihn auch machen und leben. Auch das lehrt uns die Menschheitsgeschichte, wie erst jüngst Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik (Biologe, Archäologe und Historiker) in ihrem Buch zur „Evolution der Gewalt“ überzeugend aufzeigen[1]. Die Gewalt der Gegenwart liegt eben NICHT in unserer Natur. Wir folgen manchmal zu sehr unseren evolutionären Reflexen, uns auf das Bedrohliche und Gefahrvolle zu konzentrieren – und übersehen bzw. unterschätzen unsere eigenen Fähigkeiten (und Neigungen) zu Kooperation, Vertrauen und Versöhnung, ja zum Frieden und friedlichem, geregeltem und respektvollem Austrag von Konflikten.

Der Volkstrauertag als ein Tag der Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden ist damit auch ein Tag, der uns mahnt, Krieg nicht als unabänderliches Schicksal hinzunehmen, sondern die menschlichen Friedensfähigkeiten nicht gering zu schätzen und diesen gerecht zu werden.

Elvin Hülser, Geschäftsführer Friedensarbeit Sievershausen e.V. 


[1] Meller, Harald; Michel, Kai; Schaik, Carel van: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. München 2024 (dtv).