Nicht wegsehen
Im Jahr 2023 sind 155 Frauen von ihren (Ex-)Partnern ermordet worden – oft in Momenten, wo sie sich trennen wollten, wenn sie die Bedrohung schon spürten, aber ihnen nicht geglaubt wurde, wenn sie nur noch wegen der Kinder Kontakt hielten. Dass dies keine Familientragödien, sondern Femizide, Morde an Frauen sind, daran erinnert der 25. November, der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Diesen Tag gibt es auch deswegen, weil Gewalt in Partnerschaften noch viel zu oft als „privat“ angesehen wird und Menschen deshalb wegsehen.
Um Wegsehen geht es auch bei den knapp zweihundert Personen, die offiziell zu den Betroffenen in unserer Landeskirche gehören, denen sexualisierte Gewalt angetan wurde. Die Dunkelziffer wird erheblich höher eingeschätzt. Und sie zeigt: Kirche steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sie ist mittendrin und sie muss Verantwortung für alle Gewalt übernehmen, die in ihren Reihen geschehen ist und für alle Vertuschung und alles Wegsehen und alles, was die Betroffenen zusätzlich erleiden mussten. In der Bibel wird an vielen Stellen nicht weggesehen, sondern genau hingeschaut. Die Vergewaltigung von Tamar durch ihren Bruder wird sehr genau beschrieben, das Unrecht wird benannt. „Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist“, steht im Buch Exodus, Kapitel 23,2. Nicht aus Angst oder Bequemlichkeit wegschauen, nicht die Strukturen oder Täter schützen, sondern für die einstehen, denen Gewalt angetan wird. Und diese Aufforderung gilt für jeden und jede einzelne von uns – nicht nur am 25. November.
Pastorin Susanne Paul
Beauftragte für Genderfragen der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Service Agentur